Venedig im Regen. Über politisches Engagement und Magie in der Kunst.

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Danh Vo, “Mother Tongue” im Dänischen Pavillon (Foto: WgK)

Venedig im Regen.
Über politisches Engagement und Magie in der Kunst. 

von Conny Habbel. Zuerst erschienen in: Kursbuch 184. Hamburg: Murmann 2015.

In einer eisigen Herbstnacht steige ich in den Euro Night der Österreichischen Bundesbahn von Wien nach Venedig. Mein Schlafabteil begrüßt mich mit einer in die Jahre gekommenen Reproduktion von Klimt’s „Kuss“, unter kaltem Neonlicht, im Format Din A4 (das Original ist eigentlich quadratisch). Das Bild wurde hinter getrübtem Plexiglas in die grauen Plastikwände meiner Kapsel versenkt. Was hier hängt verweist nur im Entferntesten auf Klimts auratisches Jugendstilgemälde: schillernd, virtuos, visuell mächtig, kleinteilige, golden schimmernde Flächen, zwei Figuren, in inniger Umarmung, die zarte Blässe der Gesichter gerahmt von den floralen Ornamenten ihrer Kleider. Auch dort, wo ich hinfahre, wird es Kunst zu sehen geben, ob schillernd, verstaubt, konzeptionell oder ganz anders.

Die Biennale von Venedig, eines der weltweit wichtigsten Kunstereignisse, fällt diesmal in eine Zeit, in der ich an meinen behüteten Wohnorten, Wien und München, mit der Flüchtlingskrise eine weltpolitische Notlage deutlicher mitbekomme als je zuvor. Im österreichischen Erstaufnahmelager Traiskirchen, sozusagen vor meiner Haustür, müssen fiebernde Kinder bei niedrigen Temperaturen im Regen schlafen. Auf einer Autobahn im Burgenland werden 71 Leichen aus einem luftdicht verschlossenen Kühlwagen geborgen. Auf Facebook ist ein Video zu sehen, das Menschen zeigt, wie sie, teilweise schreiend vor Schmerz, durch einen halbgefrorenen Fluss an der slowenischen Grenze waten. Tag für Tag die Untätigkeit der europäischen Politik, Tag für Tag neue schreckliche Nachrichten. Die Ereignisse machen mich rasend wütend und unfassbar traurig. Manchmal stehe ich mitten in der Nacht auf, in meiner gemütlichen, beheizbaren Wohnung, und streichle meinen schlafenden Sohn.

Als Künstlerin frage ich mich: Welche Kunst kann in dieser Zeit sinnvoll sein? Ist es überhaupt noch legitim, Kunst zu machen, die solche politischen Missstände nicht reflektiert? Ich bringe Spenden zu den Notunterkünften in Wien und überweise Geld an Flüchtlingsorganisationen. Doch in meinen künstlerischen Arbeiten beschäftige ich mich mit biografischer Erinnerung und der Suche nach einem Platz in unserer narzisstischen Gesellschaft, mit ihrem Appell zur Selbstverwirklichung. Wann beginnt das „wirkliche Leben“ und worauf warten wir eigentlich? Zu weltpolitischen Themen habe ich mich bisher nie geäußert. Geliebt habe ich immer spielerische Kunst, wie die Arbeiten des Künstlerduos Fischli und Weiss oder die inszenierten Fotografien und das Rollenspiel von Cindy Sherman; Kunst, die um psychologische Themen kreist, etwa die Werke Sophie Calles, und solche, die formal stark und magisch ist, wie die Malerei Michael Borremans’, die Skulpturen Ron Muecks oder die Fotografien Rineke Dijkstras. Diese Kunst macht mein Leben reicher, mein Denken flexibler und mein Empfinden feiner. Und doch: Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, mich mit politischeren Ausdrucksformen auseinanderzusetzen.

Ein anonymes syrisches Videokollektiv, das Gefängnissystem in den USA und Arbeitslieder von Strafgefangenen

Die 56. Venedig-Biennale ist ein guter Ort um sich anzuschauen, wie Kunst funktioniert, die eine konkrete politische Stoßrichtung hat. Kuratiert wurde das Festival diesmal von Okwui Enwezor, der mit seinen großen Ausstellungen zur jüngsten Kunstgeschichte Afrikas für eine Hinterfragung des westlichen Kunstbetriebes steht. Der in Nigeria geborene Autor und Kurator mit US-amerikanischer Ausbildung richtete vor 13 Jahren bereits die Documenta 11in Kassel aus. Mit seinen Statements zur Weltlage, zu sozialen Konflikten und politischer Instabilität, gilt Enwezor als Kurator, dem es gelingt „Kunst und Politik zu vereinen“.

Enwezors Anliegen ist es, auf dieser Biennale den Zustand der Welt zu aus verschiedensten Blickwinkeln zu erfassen: Unter den 136 präsentierten Künstlern finden sich viele Teilnehmer aus Afrika, Südamerika, Asien. Auf die schwierigen Zeiten, in denen wir leben, vom islamistischen Terror über Wirtschaftskrisen und Umweltkatastrophen, antwortet er mit Kunst, die diese Bedingungen konkret reflektiert: „In der Ausstellung nehmen wir auf aktuelle internationale Ereignisse Bezug, etwa mit den Filmen von Abounaddara, einem anonymen syrischen Videokollektiv, das jede Woche einen neuen Beitrag aus Syrien zeigen wird. Aber wir beschäftigen uns auch mit nationalen Debatten, etwa dem Gefängnissystem in den USA und wie es das Leben von Minoritäten beeinflusst, vor allem junger schwarzer und hispanischer Männer. Dazu gibt es eine spannende Sound-Arbeit von Jason Moran, der Arbeitslieder von Strafgefangenen untersucht hat.“i

Enwezor glaubt daran, dass Künstler „ebenso wie Schriftsteller, Philosophen und Politiker teilhaben an den Ereignissen und die Art und Weise formen, wie wir darüber denken.“ Ganz sicher! Gute Kunst berührt unser Denken und Wahrnehmen. Die Frage aber ist: Wie macht sie das?

Morgens weckt mich die Zugbegleiterin mit lautem Klopfen an die Abteiltür. Nach einer Styropor-Semmel mit Gummikäse betrete ich ein Venedig, das vollkommen unter Wasser steht. Von unten sowieso, aber heute auch von oben: „It’s raining cats and dogs!“. Mit dem Trolley in der einen und dem Regenschirm in der anderen Hand läuft es sich etwas anstrengend, umständlich, nass. Ich mache ich mich auf, in den kommenden drei Tagen die Giardini, das Arsenale und einige in Venedig verstreute Palazzi zu besuchen.

„Die Schwachen“

Vor allem zwei Kategorien „politischer Kunst“ begegnen mir: Zum einen solche, die über Benachteiligung spricht: Sie weist auf Missstände hin, zum Teil klärt sie auf und informiert. Im Arsenale etwa sehe ich T-Shirts und andere Kleidungsstücke auf langen, an die Wand gelehnten Holzlatten: eine Arbeit der Petersburger Künstlerin GLUKLYA, in der sie Kleidung zeigt, die 2012 bei der „Demonstration gegen die verlogene Wahl von Vladimir Putin“ getragen wurde. Ihr Motto: „Der Platz eines Künstlers ist der neben den Schwachen“. Von dem 1968 verstorbenen Künstler Pino Pascali wird unweit hiervon eine aus Schrott zusammengebaute Kanone präsentiert („Canone semovente“). Mit ihrem Film über die neoliberalen Machtverhältnisse im Ägypten der Mubarak-Zeit sind die in Kairo lebenden Künstler Jasmina Metwaly und Philip Rizk vertreten. Etwas länger halte ich mich auf im deutschen Pavillon bei den Fotos und Geschichten der Flüchtlinge aus Afrika, die Tobias Zielony in Hamburg und Berlin aufgenommen und niedergeschrieben hat. Seine Recherche stellte der Künstler der afrikanischen Presse zur Verfügung, die großflächig über seine Arbeit berichtete.

Arbeiten dieser Art sind zweifellos aus einer guten Absicht heraus entstanden. Ein Engagement für Freiheit, Menschenwürde, Gerechtigkeit. Zielony liefert mit seinem Beitrag eine wertvolle Reportage, die uns Information, Hintergrundwissen, Empathie und Denkanstöße vermittelt. Vor allem sein Spiel mit der medialen Präsenz des Themas, durch die Einbindung der afrikanischen Presse, ist ein interessanter Twist in diesem Beitrag. Doch beziehe ich diesen Erkenntnisgewinn nicht ebenso gut aus den Kommentaren von Philosophen, Soziologen und Politologen? Glücklicherweise ist Kunst heute kein abgeriegelter Bereich mehr, der nur l’art pour l’art gelten lässt. Dennoch stellt sich mir die Frage, ob dieses dokumentarische Projekt das Potential der Kunst nutzt.

Letztendlich bestärken mich die genannten Werke in einem bereits vorhandenen Wissen um die Missstände, die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten auf der Welt, wie sie mir (und dem Großteil des kulturell gebildeten, mehrheitlich westlichen Publikums) bekannt sind. DieseKunst irritiert mein Denken oder meine Wahrnehmung nicht, sie verstärkt nur ein bestehendes schlechtes Gewissen über die eigene Priviligiertheit auf dem Rücken anderer. Leider werden aber diejenigen, die bekehrt werden sollten – wie die Hetzer und Rassisten, die Europa vor der wachsenden Überfremdung des christlichen Abendlandes warnen – von solchen Werken aufgrund ihrer lokalen wie soziokulturellen Platzierung äußerst selten bekehrt. Oder nie.

Auf der anderen Seite gibt es Kunst von Benachteiligten, einen Wettbewerb der Krisenregionen. Mit Stühlen, zusammengeschweisst aus Waffen und afrikanischen Masken, macht etwa Goncalo Mabunda aus Mozambik auf die post-koloniale Situation Afrikas aufmerksam („Throne of Non Slavery“ u.a.). Diese Arbeit erscheint mir sehr plakativ, ich verweile nicht länger als eine halbe Minute und bilde mir ein, sie trotzdem „erfasst“ zu haben. Böse gesagt erfüllen viele dieser Arbeiten eher eine Quote als mit starken Werken zu bestechen. Die Stärke liegt ja schon in der Schwäche ihrer Produzenten. Schließlich weiß der progressive Kunstbetrieb seit Langem, dass das Böse schlechthin im „weißen, heterosexuellen, mitteleuroäischen Mann“ zu finden ist (auch wenn dieser immer noch den Hochpreiskunstmarkt dominiert). So haben afrikanische, asiatische oder lateinamerikanische Künstlerkollektive hier gute Karten, selbst, wenn sie mancherorts nicht viel mehr als Ethno- Folklore präsentieren.

Natürlich ist es wunderbar, wenn neue, spannende Arbeiten gezeigt werden, jenseits der üblichen Verdächtigen des Kunstbetriebs. Werden diese Künstler aber vorrangig aus Gründen ihrer Nationalität, Unterdrücktheit, ihrer „Schwäche“ eingeladen, so entwürdigt das nicht nur ihre Arbeit sondern auch die Kunst an sich. Ganz so, wie jene KuratorInnen, die mich als Künstlerin nur dann Ernst nehmen, wenn ich mein Frausein als schwerwiegendes Problem behandle. Wäre Mabunda aus Mozambik auch dann hier vertreten, wollte er in seiner Kunst dem Betrachter die Eigenständigkeit der Kunst gegenüber der herkömmlichen Wirklichkeit vor Augen führen? So, wie etwa Georg Baselitz, dem hier mit seinen auf den Kopf gestellten Malereien ein ganzer Raum gewidmet wird? Oder muss Mabunda aus Mozambik in erster Linie benachteiligt sein und in dieser Position auch unbedingt verhaftet bleiben, um die Aufmerksamkeit des Kunstbetriebes nicht zu verlieren?

Mit dem guten Gefühl, politisch auf der richtigen Seite zu stehen und die Augen vor dem Elend anderer nicht zu verschließen, sondern sich in asketischer Weise unangenehme, nicht euphorisierende Kunst zuzumuten, kann man jedenfalls durch beide Varianten unbeirrt und mit intaktem Weltbild spazieren.

Wie kann Kunst die Welt bewegen, wenn sie nicht einmal mich bewegt?

Es ist weniger die ihm vielfach vorgeworfene mangelnde Radikalität und Konsequenz, mit der Enwezor politische Debatten auslöst, die mir gegen den Strich geht. Auf meinen Wegen durch die Ausstellung bleibe ich bei all der verständlichen Absicht, die hinter seinem Projekt steht, seltsam unberührt. Man kann gut über diese Kunst reden, sie nachvollziehbar erklären. Aber: Ist es das, was Kunst am besten kann? Und: Wen trifft solche Kunst? Abends im Hotel merke ich, wie gelangweilt ich letztlich bin, von dem, was ich tagsüber gesehen habe: Die politisch ausgerichteten Beiträge sind meist so eindeutig, konkret und simpel in ihrem Weltbild, ihre Symboliken so plakativ! Selten findet sich Phantasie und Raffinesse, also Dinge, die mein Denken auf neue Bahnen lenken.

„Reportagephotos sind sehr oft einförmige Photographien (…). Das Photo kann ‚schreiend’ sein, doch es verletzt nicht. Diese Reportagephotos werden registriert (mit einem Blick), mehr nicht. Ich blättere sie durch, ich vergegenwärtige sie mir nicht; (…) sie interessieren mich (so wie mich die Welt interessiert), ich liebe sie nicht.“ ii

Offenbar besteht heuer in Venedig die Befürchtung, Poesie könnte den Blick auf das „Wesentliche“ verstellen. Aber: Was ist dieses Wesentliche? Und bin ich womöglich unpolitisch, dekadent und naiv, dass ich Spielerisches, Persönliches, Magisches verehre anstatt konkreten Problemen auf der Welt ins Auge zu blicken? Wer weiß. Nur frage ich mich: Welche Kunst kann die Welt bewegen, wenn sie nicht einmal mich bewegt?

Hat man von Venedig nicht diese Idee, elegant gekleidet über seine kleinen Brücken zu schlendern, sich träumerisch in den verwinkelten Gässchen zu verlaufen? Gerade das herbstliche Venedig könnte doch herbromantisch, melancholisch sein! Mit so einem Erleben kann ich heute leider nicht dienen. „Venedig im Regen“ klang selbst bei Thomas Forstner irgendwie besser. Ich sitze in der überfüllten Vaporettolinie 1, die mich im Schneckentempo durch den Canale Grande zu meinem Hotel am Lido fährt. Unter der Überschrift „Venedig – Neue Kunst in alten Schachteln“ hat ein Blogger über diese Bootsfahrt geschrieben: „Wie fantastische Magie. (…) Die Fahrt auf dem Canale Grande. Das Vaporetto tuckert. Die Sonne scheint. (…) Jetzt gibt es nur noch: Venedig und ich. Wie in einem Tagtraum gehört die geheimnisvolle Lagune nur mir.“Mir gehört sie leider nicht und ich sehe sie auch nicht, denn die Scheiben des Vaporetto sind von innen vom Dunst der Fahrgäste beschlagen, von außen verregnet. Achzig Prozent der Touristen tragen Plastiküberzieh-Schuhe, die von den fliegenden Händlern entlang des Canale Grande für ein paar Euro verkauft werden, praktische Schuh-Kondome, die sich bis zum Knie hochziehen lassen. Ganze hundert Prozent – mich inklusive – aber laufen mit dazu passenden „Regenponchos“ aller Farben herum. Keine Frage, diesen Outfits ist ihre Relevanz nicht abzusprechen, sie sind eine sinnvolle, konkrete Antwort auf derzeitige lokale und meteorologsiche Problemstellungen. Ganz wie die Kunst, deren vorrangiges Ziel es ist, auf aktuelle politische Probleme zu antworten, müssen sie ihre Relevanz nicht lange rechtfertigen.

Leider haben solche überdimensionierten Plastiksäcke aber nichts mit dem roten Regenmäntelchen gemein, das wir aus Nicolas Roegs wunderbarem Film „Wenn die Gondeln Trauer tragen“ kennen, der ebenso in Venedig spielt. Dieses Meisterwerk, dessen zentrales Thema das Sehen mehrerer Dimensionen ist (Originaltitel: Don’t Look Now), brennt sich tief in die Wahrnehmung seines Betrachters ein. Ein durch den Tod seines Kindes traumatisiertes Paar. Fantastische Schauspieler. Die Musik von Pino Donaggio, die Liebesszene, die Mystik der Bilder, die Liebe und Trauer, das Rot. Dieser Film bewegt etwas auf verborgener Ebene und man könnte sich wohl in einem dicken Wälzer darum bemühen, seine Zielsetzung und Wirkung in Worte zu übersetzen und dennoch würde etwas Unbeschreibliches übrigbleiben.

Nur selten geht mir auf dieser Biennale etwas unter die Haut. So etwa als ich am zweiten Tag den dänischen Pavillon besuche, in dem Danh Vo mit großteils vorgefundenen Materialien gearbeitet hat. Die Formensprache ist hier feinsinnig, noch bevor ich die genauen Hintergründe der seltsamen skulpturalen Collagen kenne, ist meine Wahrnehmung ganz wach. Die Räume wirken weitgehend leer. Vereinzelt bestückte Vo sie mit rätselhaft poetischen Arrangements von eigenen Werken und Readymades: mittelalterliche Skulpturen, ein dänischer Designertisch, ein Brief aus dem 19. Jahrhundert, den Vos Vater – ohne Kenntnis seines fremdsprachigen Inhalts – in Schönschrift kopiert hatte. Eine Christusfigur, die in um 1600 in Portugal entstanden ist (der überraschend gellende Titel: „Do you know what she did, your cunting daughter?“), ein hölzerner Engelskopf aus dem 17. Jahrhundert („Your mother sucks cocks in Hell“).

In formaler Präzision erzählen Vos Arrangements von Kulturtransfers zwischen Orten und Zeiten, von der Sehnsucht nach einer Heimat. Vos Familie war nach der Kapitulation Südvietnams 1979 aus dem Vietnam geflohen. In ihrem selbstgebauten Boot wollte sie in die USA einreisen. Die ‚Boat People’ wurden jedoch von einem dänischen Frachter abgefangen und so wuchs Danh Vo in Kopenhagen auf. Auch jenseits der Biennale enthält Vos Werk immer wieder Bezüge zu Familienmitgliedern und erzählt von Verlust und Sehnsucht. Vos Werk ist politisch in seiner Individualität. Diese rätselhafte und persönliche Arbeit dringt weit tiefer in meine Wahrnehmung und mein Denken ein, als die Anklagekunst mit ihren plakativen Kriegssymboliken drumherum. Beim Weitergehen fühlt sich der Regen auf einmal nicht mehr so plump an.

To ‚like’ oder to ‚love’?

Der Kunstbegriff, der hinter dieser Biennale steht, glaubt nicht an die Kraft der Form, an Glam oder Poesie. Diese Begriffe sind den Vertretern der dezidiert politischen Kunst suspekt. Form, Spiel, Magie: Sie würden von der Ernsthaftigkeit des Anliegens ablenken, es verklären. Dabei vermögen es doch gerade diese Dinge, Großes zu bewirken. Wie arm ist ein künstlerisches Anliegen, das ohne sie auskommen muss! Wie milde seine Schlagkraft!

„Nur oberflächliche Menschen urteilen nicht nach dem äußeren Erscheinungsbild. Das Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare.“ (Oscar Wilde)

Ohne Würdigung der Form kann ein Werk höchstens das hervorbringen, was Roland Barthes in seiner Analyse von Fotografien das studium iii nennt: „eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit“. Ein „höfliches Interesse“. So gehört das studium für Barthes auch zur Gattung des to like und nicht des to love. Um diese Kategorie handelt es sich bei den lehrreichen Werken, die über Arbeiterelend oder Postkolonialismus informieren. Die Intention des Künstlers wird sehr gezielt kommuniziert, was kennzeichnend für das studium ist, welches eine Beschäftigung des Betrachters mit der Intention des Autors voraussetzt und das Verstehen derselben einfordert.
Anders solche Ausdrucksformen, wie Danh Vo sie im Dänischen Pavillon präsentiert. Hier existiert ein punctum. Nach Roland Barthes das Element, welches das studium durchbricht oder skandiert. Hier muss ich mich als Betrachter dem Werk nicht annähern, sondern „das Element selbst schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren.“ Das punctum eines Bildes erzeugt also eine Art unbewussten Stich in uns, der von etwas Zufälligem im Werk ausgeht, nicht von der Intention des Autors, nicht von einer planmäßig vermittelten Aussage. Es ist jenes unbeschreibliche Element, das wir auch das „gewisse Etwas“ nennen, oder „Magie“. Hierin besteht jene expansive Kraft, mit der ein Bild wirklich über sich selbst hinausweist.

Die Zähmung der Kunst

Das ist das Wesen der Kunst: genau dieser „magische“ Anteil im Werk, der über die enthaltene Information und deren Übersetzbarkeit in Sprache hinausgeht. In ihrem Essay Against Interpretation schildert Susan Sontag das Problem von Seiten der Kunstbetrachtung: Die richtige Frage an Kunst sei nicht, was sie aussage, sondern was sie bewirke. Der Versuch aber, den scheinbar eigentlichen Gehalt eines Kunstwerks aufzudecken, indem man sich hinter dieses gräbt und dessen „Untertext“ freizulegen sucht, zeuge von einer Verachtung des äußeren Erscheinungsbildes. Laut Sontag vergiftet eine solche Herangehensweise an Kunst unser sensuelles Empfindungsvermögen. Der Anspruch, Kunst habe klar übersetzbare, verständliche Aussagen zu liefern, beschneidet deren interne Kritikfähigkeit und beraubt sie ihres eigenen Potentials an Widerspenstigkeit und Rätselhaftigkeit. „Wirkliche Kunst hat die Eigenschaft, uns nervös zu machen“ iv, so Sonntag, der Interpret aber, der das Kunstwerk auf seinen Inhalt reduziert, zähmt es.

Die inhaltistische Herangehensweise also entmachtet die Kunst, verachtet ihr äußeres Erscheinungsbild, macht sie bequem und manipulierbar. Natürlich muss die Kunst sich mit allen Mitteln gegen diese Verharmlosung zur Wehr setzen! Will man meinen. Jedoch scheint es, als würde Enwezors lehrreiche Kunst bereits im vorauseilenden Gehorsam gefügig und kampflos alles Nötige für ihre eigene Kastration mitliefern: Diese Werke sind so konzipiert, dass selbst ihr Kern in Sprache übersetzt und verstanden werden kann. Nichtmehr der Interpret muss sie zähmen, die Kunst selbst verzichtet auf ihr Potential und legt ihre Waffen nieder. Wie konnte es dazu kommen, dass sich die Kunst heute selbst entmachtet? Warum fürchtet sie ihre eigene Magie?

Bedauerlicherweise befeuert gerade eine sich als aufgeklärt und politisiert verstehende Ausrichtung des Kunstbetriebes seit den Neunziger Jahren diese Selbstneutralisierung. Möglichst direkte Kommunikation über ‚wichtige’ Themen, so fordert es die Strömung für die Enwezor beispielhaft steht von der Kunst, und stellt diese damit in den Dienst pragmatischer Ziele. Die Kunstkritik ist längst dazu übergegangen, Werke zu Belegstücken für aktuelle Diskurse werden zu lassen und das Feuilleton hat seinen Schwerpunkt verlagert: Schrieb früher ein Schriftsteller über die Eurokrise, so erschien dieser Text im Politik- oder Wirtschaftsteil der Zeitung. Heute werden solche Artikel in der Kultur publiziert, indessen schwindet der Raum für kunstimmanente Fragestellungen. Form und ästhetische Rezeption haben an Würdigung verloren. Dabei meint Form selbstverständlich nicht allein „Schönheit“. Wie Sigmund Freud ausführt, ist Ästhetik nicht als Lehre vom Schönen, sondern als Lehre von den Qualitäten unseres Fühlens zu verstehen. In der Form ist Gehalt und Intention immer inbegriffen. Von Kant bis Adorno wurde sie als essentielle Qualität der Kunst gesehen. Gerade die politische Schlagkraft von Kunst war für Adorno oder Marcuse untrennbar mit deren Form verbunden. Hierin lag der mögliche kritische Gehalt eines Werks.

Dass die Form in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr in Verruf geraten ist, mag an der Abwendung vom Formalismus liegen oder am Aufkommen von „Kontextkunst“, einem Kunstbegriff, der den Kontext eines Werks weit über dessen immanente Eigenarten stellt, am Bedeutungszuwachs von Kuratoren, an der Krise eines überhitzten Kunstmarktes und einer vermehrten Abhängigkeit der Kunstschaffenden von öffentlichen Geldern: Förderanträge, die man als Künstler stellt, um Projekte realisieren zu können, sollen heute ihre Interpretation am besten gleich mitliefern, um die Relevanz der geplanten Arbeit zu belegen. Ich musste bereits in einigen Formularen ausfüllen, ob meine Arbeit feministische Aspekte „abdeckt“. Naja, ich bin eine Frau, gilt das? Es scheint eine Liste an gesellschaftspolitischen Zielen zu geben, die Step by Step abzuhaken sind. Je mehr Häkchen, desto förderungswürdiger. Je klarer die „Zielsetzung“ des Kunstwerks, umso besser. Ich habe aber bei der Antragstellung um Projektförderung noch nicht das fertige Kunstwerk vor Augen. Könnte ich dieses von A-Z durchplanen, seine Wirkung bereits im Vorfeld abschätzen, so würde sich die Verwirklichung erübrigen.

Der Traum aller

Auch am zweiten Tag regnet es. Nochmal Giardini. Auf der Damentoilette schiebt sich eine avantgardistisch gekleidete, ältere Dame ihre Plastikzahnspange in den Mund und bemalt ihre Lippen mit hellem Pink. Eine französische Schulklasse blockiert rauchend den überdachten Durchgang zum Bistro.

Ich frage mich, was Nicolas Roeg in der Einreichung für seinen Venedig-Film geschrieben hätte. Was ist seine „Aussage“? Bitte in wenigen Sätzen auf den Punkt bringen! Wie sieht es mit den Genderaspekten aus? Sind thematische Bezüge zu Migration, Homosexualität, Arbeiterelend enthalten? Warum sind alle Hauptdarsteller Weiße? Wie ist die Zwergin zu rechtfertigen, die am Ende des Films den grausamen Mord begeht? Wird hier nicht eine Behinderung mit Horror konnotiert?

Im Deutschlandfunk kommentiert Carsten Probst, dass der Goldenen Löwe dieses Jahr an den Armenischen Pavillon ging, weniger „für die Kunst aus der armenischen Diaspora, die dort gezeigt wird, als für die Sache selbst, denn in ihm wird des Völkermordes an den Armeniern gedacht.“ Diese Kunstauffassung instrumentalisiert Kunst im Sinne einer gesellschaftlich gut gemeinten Idee. Man glaubt, Kunst müsse konkret wirksam sein, die richtige Haltung vermitteln, in die Realpolitik einwirken. Nur ist die Folge keine bessere Gesellschaft, sondern eine schlechtere Kunst: ein Inhaltismus, dem jegliche Magie der Formensprache suspekt ist. Kunst so eindimensional zu denken, schmälert das, was sie wirklich vermag, die Konsequenz ist eine ärmere Gesellschaft, die nicht mehr auf das politische Interventionsvermögen der Kunst zählen kann. Damit entmachtet sich gerade jene Kunst politisch, deren Ursprung das politische Engagement ist.

Ein Werk kann nicht nur bildnerisch, sondern auch in seiner Struktur formal genial sein. So bin ich bis heute hin und weg von Sophie Calles Beitrag für den französischen Pavillon auf der Venedig Biennale 2007. Grundlage der Arbeit „Prenez soin de vous“ war eine Nachricht von Calles Geliebten, in der dieser die Beziehung beendete. Übermittelt ganz ohne Umschweife per Email. Nach eigenen Angaben wusste die Künstlerin nicht, was sie antworten sollte. So ließ sie das traumatisierende Schreiben von 107 Frauen interpretieren. Der Pavillon war bevölkert von den Brief-Interpretationen einer Wahrsagerin, einer Richterin, einer Psychoanalytikerin, einer Profilerin, einer Bharatnatyam-Tänzerin, u.v.a. auf Videos und in Fotografien. Dieser multiperspektivische Verstehensversuch packte mich damals weit mehr als die gesamte Biennale 2015. Die Arbeit ist strukturell kraftvoll, spielerisch und kühn!

Und hier kommt neben der Form das weitere Tabu der „politisch korrekten Kunst“ ins Spiel: Das scheinbar „Private“. Calles Arbeit ist angelehnt an ihr Liebesleben. „Wen interessiert das?“ rümpfen die Verfechter politischer Kunst ihre Nase. Wer meint, um gesellschaftlich relevant zu sein, müsse man als Individuum in seiner Kunst zurücktreten, übersieht, dass das Individuum im Rahmen seiner Kunstproduktion eine symbolische Rolle spielt, fiktional wird, und somit eine Funktion einnimmt, die weit über den Einzelnen hinausweist. Das Verkennen dieser Dimension ist kennzeichnend für das, was Sennett als narzisstische Charakterstörung unserer Gesellschaft beschreibt, deren öffentliche Sphäre unter der „Tyrannei der Intimität“ mehr und mehr an Bedeutung verliert.v Was Sennett die Öffentlichkeit nennt, oder Lacan die symbolische Ordnung, ist untrennbar mit der Kategorie der „Form“ verbunden: Formales Verhalten, Höflichkeit, Rollenspiel. Diejenigen, die Angst vor dem Individuellen oder „Privaten“ in der Kunst haben, sind diejenigen, die dieser öffentlichen Sphäre, dem Symbolischen, am wenigsten zutrauen. Calle plaudert nicht einfach „aus dem Nähkästchen“! Durch ihre Rolle als Künstlerin wird ihre Arbeit allgemein und entpersonalisiert. In seinem Aufsatz über den Genius schreibt Agamben: „Man schreibt, um unpersönlich zu werden.“ Oder, wie Freud in „Der Dichter und das Phantasieren“ darlegt, sagt der Traum von irgendwem nur über diesen selbst etwas aus und ist für andere meist uninteressant. Der Traum aber, den ein Dichter beschreibt, sei der Traum aller. Die poetischen Mittel dienen der Verallgemeinerung. Das ist das Potential von Kunst.

Der nostalgische Widerstand

Diese Raffinesse, durch die das Individuelle und Formale politisch wirksam wird, fehlt dieses Jahr in Venedig. Die Werke klären in didaktischer Weise auf und rebellieren in ihrer nostalgischen Vorstellung von Gut und Böse noch im Stile der Sechzigerjahre, als die Fronten klarer gezogen waren und Kunst noch eine Gegenmacht zu einer von starren Konventionen geprägten hierarchischen Gesellschaft und zum Establishment darstellte. Heute ist unsere Arbeitswelt längst von einem Imperativ des Kreativseins durchzogen, von Chefs, die geduzt werden wollen, von einer Wirtschaft, in der die Künstler selbst das Vorbild sind: Verkörperung des spontanen, flexiblen, kreativen Geists. Die politisch engagierten Arbeiten, die ich in Venedig sehe, ignorieren derartige Verschränkungen in ihrer simplen Dialektik von den Schwachen und den Starken. Daraus wachsen keine neuen Blickwinkel auf die Weltlage.

Anfang der Nullerjahre, als ich Kunst studierte, war es längst nicht mehr möglich, die überkommene Vorstellung eines künstlerischen Gegenpols sinnvoll zu bedienen, und dennoch wurde es von manchen Nostalgikern unter den Lehrenden so erwartet. Die Konflikte, denen ich gegenüberstand, waren nicht die spießigen Unterdrücker da oben, vor denen ich mich in einer skandalösen Performance auf den Tisch entleeren hätte wollen. Die Gegner waren viel schwerer auszumachen, sie fanden sich mitunter in den eigenen Reihen. Etwa diejenigen, die von uns Studierenden wollten, dass wir uns nicht mit „Privatem“ beschäftigen, sondern mit „dem Öffentlichen“. So riet mir ein Dozent, ich solle aufhören, in meinen Fotoserien Protagonisten aus dem privaten Umfeld zu verwenden. Sehr viel relevanter wäre es, ich würde mich mit öffentlichen Themen auseinandersetzen: etwa mit dem neu erbauten Wohn- und Einkaufskomplex am Stadtrand!

Heute weiß ich, dass meine damalige Beschäftigung mit dem Begriff „zu Hause“ – mit familiären Strukturen und dem regressiven Bestreben, eine Geborgenheit wiederzufinden, die es nie gegeben hat – natürlich politisch und gesellschaftlich relevant waren. Das waren die Herausforderungen, mit denen meine Generation zu kämpfen hatte. Für uns ging es nunmal nicht darum, die Autorität unserer Eltern zu zerstören, sondern darum, ihre Antiautorität zu verkraften und uns trotzdem einen Weg durchs Leben zu bahnen.

Bumm!

Der dritte Tag in Venedig, mein Trolley ist wieder trocken. Bei meiner abendlichen Rückfahrt zum Bahnhof nehme ich nichtmehr die Schneckenlinie 1, sondern die viel schnellere 5.1. Ein bisschen reicher bin ich in meinem Weltverständnis hier also doch geworden. Auf der Rückreise lese ich auf meinem Smartphone einen Artikel der ZEIT. Der Autor kritisiert die mangelnde Radikalität von Enwezors Biennale: „Abermals zählt allein die Geste, egal, wie paternalistisch sie sein mag.“vi Aber leider nein: Gerade die Geste zählt hier nichts. Alle magischen Techniken der Kunst, Extravaganz, Glamour, Ekstase, Aura, Verführung, Obsession und vor allem der kühne Anspruch, etwas Bedeutendes zu erbringen, wurden hier ausgemerzt. Das erschiene viel zu autoritär, zu chauvinistisch. Enwezor betonte bereits im Vorfeld, dass er eine „bescheidene“ Ausstellung plant.

Kunst, die bescheiden auftritt, die darauf verzichtet, mit formalen Mitteln ihre Betrachter in einen Bann zu schlagen und starke Gemütsregungen in Bewegung zu setzen, verzichtet nicht nur darauf, das Leben ihrer Betrachter zu bereichern, sondern auch auf jede nennenswerte politische Intervention. „Denn das politische Feld, an dem Kunst teilhat, ist das der Ideologie. Die ideologischen Kämpfe aber finden nicht auf der Ebene der Informationen statt, sondern auf der Ebene der Affekte und ihrer Organisation“vii, so der Philosoph Robert Pfaller.

Ich klicke weiter auf meinem Handy herum und scrolle durch die Fotos der letzten Tage: Bilder von Arbeiten, die ich schon wieder vergessen habe. Brave Belehrungen und politisch korrekte Anklagen eines „bescheidenen“ Kunstfestivals. Nicht peinlich, nicht heiß, nicht naiv, nicht grandios vermessen. Lau. Das kann nicht der Sinn von politischer Kunst sein. Dass Ausbeutung nicht legitim ist, darüber sind wir uns doch alle einig. Sich dagegen aber zu wehren, die Verhältnisse wirklich zum Tanzen zu bringen, das kann uns diese Kunst nicht lehren. Hierzu muss sie sich erst wieder trauen, lyrischer zu sprechen und zu zaubern. So, wie der Musiker Little Richard, der 1955 eine wuchtige und wirksame Form für seine Beschwerde gefunden hat: Der Fluch, den er einst seinem Arbeitgeber entgegenschmetterte, verhext uns schließlich bis heute: „A-wop-bom-a-loo-mop-a-lomp-bom-bom!“

 

i Thon, Ute: Das Festival der Welterklärung. In: art. Das Kunstmagazin, 06.05.2015
ii Barthes, Roland:: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main, 1998, S. 52.
iii Barthes, S. 35f.
iv Sontag, Susan: Gegen Interpretation. In: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt am Main, 2006, S.16.
v Sennett, Richard: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität. Frankfurt am Main, 2004.
vi Rauterberg, Hanno: Wenn Marx zum Künstler wird. In: Die Zeit, 13. Mai 2015.
vii Pfaller, Robert: Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur. Frankfurt am Main, 2008, S. 245.

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